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„LöSch, OberLöSch, Brandmeister“ - Eine ehemalige Lehrerin berichtet

Über fünfzig Jahre Leben in der Schule und für die Schule, Geschlechtertrennung, 68er-Bewegung, „Fragen des Zivilschutzes“ und türkische Pädagogik. Ein kleiner Einblick in ein abwechslungsreiches Lehrerinnenleben.

Der größere Teil der Leser dieses Jahrbuchs verlässt jetzt die Schule, wie ich es vor einigen Monaten auch getan habe. Deren berufliche Laufbahn liegt weitgehend vor ihnen, ich darf auf meine zurückblicken. Die begann Ostern (!) 1956 in einer achtklassigen Volksschule in NRW. Nach einer zweitägigen Aufnahmeprüfung wechselte ich vier Jahre später aufs Gymnasium. Eigentlich waren alle Gymnasien nach Geschlechtern getrennt. Ein Mädchen hatte sich aber kurz zuvor auf dem Klageweg einen Zugang verschafft zu dieser Jungenschule. Wir Schülerinnen blieben eine kleine Minderheit, nahezu alle Lehrer waren männlich, so konnten wir auf den Toiletten während der Klausuren prima schummeln. Eine andere Gruppe tauchte nicht einmal als Minderheit auf: Mir sind dort aus der Zeit keine anderen Nationalitäten in Erinnerung.

Die Woche startete mit einem Kirchgang, wenn die Eltern nicht widersprochen hatten. Unterricht am Samstag war obligatorisch.

Zum mündlichen Abitur wurde es dann feierlich mit dunklem Anzug oder dem „kleinen Schwarzen“ für die Damen. Zwei Tage eingepfercht in einem Klassenraum, verköstigt durch die Unterprima, also die Klasse unter uns, warteten wir bangen Herzens darauf, a) wer aufgerufen wurde und b) in welchem Fach; es kamen alle Fächer des letzten Schuljahres in Betracht.

Zwei Kurzschuljahre halfen, den Klassenwechsel auf den Sommer vorzuverlegen. Den Stress der heutigen G8-Generation haben wir nicht verspürt. Man wird wohl einfach Stoff gestrichen haben.

Ab 1968 nahm auch an der Uni Marburg der Haarwuchs der Männer rapide zu. Sit-ins, Vollversammlungen und Streiks bestimmten das studentische Leben (erinnert sei an die Marburger Schule um Wolfgang Abendroth). Die Naturwissenschaftler waren eigentlich sehr zurückhaltend, nein, reaktionär natürlich. Mutig forderten wir aber im zoologischen Großpraktikum anonyme Klausuren ein. Es gelang uns nicht, die Hierarchie zu knacken; die Herren mit den Scheinen in der Hand saßen am längeren Hebel.

Während 1975 die Naturwissenschaftler noch finanziell überredet wurden, das Lehramt zu wählen, bemühten sich die Geisteswissenschaftler bereits um den Erwerb einer Taxifahrerlizenz oder eröffneten eine Kneipe.

Meine erste Arbeitsstelle in Bremen, die Gesamtschule Ost, war 1975 gerade bis zur 8. Klasse hochgewachsen, die Gesamtschule West war ihr zwei Jahre voraus. Beides damals schon Ganztagsschulen mit integrierten Klassen.

Im Übrigen begann im selben Jahr die große horizontale Gliederung des bremischen Schulsystems, Orientierungsstufen, gymnasiale Sek-II-Zentren mit umfangreichen Wahlmöglichkeiten.

1978/79 hatte eine Handvoll Abiturienten mit sehr guten Noten die Möglichkeit, ein sechs Monate vorgezogenes „Schnellläufer-Abitur“ abzulegen, was für uns das komplette Prozedere mit Entwurf von Aufgaben, Einsetzen von Prüfungskommissionen usw. bedeutete.

Wir Studienräte mussten uns 1979 von unserem Titel trennen zugunsten der handlichen Neubenennung „Lehrer für das Lehramt an öffentlichen Schulen – mit der Befähigung für die Sekundarstufe II“, also „Lösch“ (weitere mögliche Laufbahn „Oberlösch“, „Brandmeister“). 1981 gab uns die Behörde kleinlaut nach verlorenem Gerichtsverfahren die ursprüngliche Bezeichnung zurück.

Mit großen Demonstrationen kämpften die Schüler 1978/79 gegen eine Verschärfung der Bestimmungen in den gymnasialen Oberstufen (die Zeitungen waren voll von Berichten über das „Tossens-Papier“).

Die Lehrer ihrerseits sorgten sich derweilen um ihre Gesundheit wegen Arbeitsüberlastung und demonstrierten eine Zeitlang mit der Aktion „Gläserne Schule“, 45 Stunden wöchentlich Arbeit ausschließlich in der Schule, dann ohne schlechtes Gewissen den Griffel fallen lassen. Das fühlte sich gut an!

Ebenfalls 1979 begann die Diskussion um die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Deutschland. Wir sollten uns und unsere Schüler auf den „Ernstfall“ vorbereiten. Aus einem Informationsschreiben des Bundesverbandes für den Selbstschutz: „Verhalten bei einem Überraschungsangriff mit Kernwaffen: Im Freien: Schnellstens in ein Erdloch, einen Graben oder eine Grube springen oder – vom Lichtblitz abgewendet – längsseits einer Mauer auf den Boden, hinter einen Erdaufwurf oder sonstige Deckung werfen – Gesicht zum Boden, Augen schließen! Nacken und Hände mit Hut, Mantel oder Jacken schützen!“ Eine Resolution des SZ Rübekamp wandte sich an den Senator für Bildung gegen seine Anweisung vom 17.3.82, anlässlich einer Sirenenerprobung (die Signale mussten wir kennen) „Fragen des Zivilschutzes“ im Unterricht zu erörtern. Wir wollten den Schülern nicht den Eindruck vermitteln, man könne im Ernstfall das Schlimmste noch verhindern.

Die Oberstufenreform kam, die Arbeitsbelastung der Lehrer nahm weiter zu, die Raketen verschwanden letztlich zum Glück wieder.

1989 habe ich ein Jahr lang türkische Pädagogik auf mich wirken lassen an einem „anatolischen“ (= bilingualen) Gymnasium in Istanbul. Die Woche wurde eingerahmt von einem Fahnenappell montags vor Unterrichtsbeginn, freitags nach dessen Ende: Militärisch aufgereihte Schüler sangen die Nationalhymne.

Eine Ordnungskommission kommt ungefragt in die Stunde: Ein hellblaues statt eines weißen Hemdes zur Uniform ist neuerdings verboten, ein Gang zum Friseur wird befohlen, den Mädchen Schmuck abgenommen; sind sie auch nicht zu stark geschminkt? Auch die Lehrer wurden nicht verschont. Unter vielem anderen galt: „Die Männer haben sich täglich zu rasieren. Vollbart ist untersagt. Falls Schnurrbart getragen wird, so ist darauf zu achten, dass er die Mundwinkel nicht überschreitet und sauber ist.“ Vollbärte waren in Deutschland gerade groß in Mode. So tauchten mehrere Atteste auf, dass wegen Narben am Kinn eine gefahrlose Rasur nicht möglich sei.

Besonders angetan hatten es mir die vielfältigen Nachprüfungsrituale, am Ende des alten Schuljahrs, am Beginn des neuen und nach einem Jahr schulischen Pausierens noch einmal. Vorher jedoch hatte der Lehrer bereits bei der Notenvergabe „verziehen“ und so die strenge Beurteilung korrigiert, die ihm erst einmal Respekt verschafft hatte.

Dazu ein Auszug aus meinem Tagebuch:

„Kollegin Raife hatte gestern Fragen für Physik gemacht, hatte in dem Jahr anderen Stoff durchgenommen als den, der vorgesehen war, das war aber bekannt. Dooferweise hat sie den Direktorstellvertreter gefragt, ob das alles seine Richtigkeit habe. Der hat daraufhin ihre Aufgaben zerrissen und gesagt, sie müsse welche vom Stoff dieses Jahres stellen. Natürlich wollten schon alle Schüler ihre Sachen packen; was soll man sich prüfen lassen über Dinge, die man nie behandelt hat! Da ertönt der Befehl, Aufgaben über dieses neue Thema und bei den Antworten helfen, so dass sie bestehen.

Ich kann meine Unterschrift kaum noch sehen. Für jede Stufe der Prüfung, für jedes Teilgebiet muss die gesamte Kommission unterschreiben. Die Schüler kaufen vorgedruckte Antwortbögen, die sie benutzen müssen. Der Prüfer klebt oben rechts den Namen zu, damit man nicht weiß, um wen es sich handelt – auch wenn nur ein Schüler diese Prüfung schreibt. Wenn er durchfällt, muss man auch die linke Ecke zukleben mit dem ersten Ergebnis und dann ganz unvoreingenommen einen Tag später noch einmal korrigieren. In praxi sieht das dann so aus, dass man die Punkte und das Ergebnis abschreibt, in die zweite Liste einträgt, anschließend die Ecke zuklebt und, wenn sie getrocknet ist, wieder aufreißt.

Man muss auch Aufgaben machen, wenn gar kein Schüler angemeldet ist. Um dieses zu umgehen, schreibt man ein Protokoll, dass man die Aufgaben gemacht und wieder zerrissen hat, als kein Schüler gekommen ist.“

2013 in Bremen: Nach etlichen Umgestaltungen (Stillstand ist Rückschritt!) ist das Schulsystem nun endlich wieder vertikal gegliedert mit lauter gymnasialen Miniaturoberstufen.

Vor dem Auftauchen weiterer bahnbrechender Umwälzungen bin ich lieber ganz schnell geflüchtet und überlasse meine Kollegen ihrem Schicksal.

Geht sorgsam miteinander um!

Christiane von der Mühlen war bis Januar 2013 Lehrerin am Schulzentrum

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