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Aus dem Jahrbuch 2013/2014: Der Zauber des Anfangs – Abiturrede 2013

Wir machen das noch: Lehrkräfte des Gymnasiums sprechen in jedem Jahr auf dem Abi-Ball – bevor es die Zeugnisse gibt – zu ihren Schülerinnen und Schülern. Mal ernster, mal humoriger, aber immer als Ausdruck von Zugewandtheit und besonderer Verbundenheit. Im letzten Jahr hat Thomas Koball diesen Beitrag geleistet, der allen ganz besonders gefallen hat.

Liebe ehemaligen Schülerinnen und Schüler, liebe Eltern, Großeltern, Verwandte, Freunde und natürlich auch liebe Kolleginnen und Kollegen!

Als ich mir Gedanken gemacht habe, ob ich etwas zu diesem Anlass sagen möchte und ggf. was – da sind mir zwei sehr unterschiedliche Texte gewissermaßen über den Weg gelaufen – und ich hab gedacht – ja – könnte was sein.
Letztendlich habe ich mich nicht entscheiden können. Der erste Text ist ein Graffiti-Spruch.
Wenn ich von der Schule (in Walle) nach Hause fahre (in die Neustadt) – mit dem Fahrrad, dann muss ich ja über die Weser, ich fahre auf dem Fahrradweg unter der B 75. Dann lasse ich den Blick schweifen über die Weser, sehe rechts von mir die Eisenbahnbrücke für die Strecke nach Oldenburg (die letzte Brücke vor dem großen Meer), dahinter den Dreimaster „De Liefde“ und freue mich meines Lebens.
Und eines schönen Tages sehe ich, dass sich ein anonymer Künstler mit einem Spruch an der Brücke verewigt hat:

Die Welt ist eins
Alles hängt zusammen
Und wenn in China ein Sack Reis platzt
Dann geht mich das was an!!!
…Because
I’m a human
Not a German

Nun sind Graffiti-Sprüher ja nicht eben immer beliebt, ihr Werk gilt oftmals als Schmiererei – und das ist es ja häufig auch. Dieser Spruch hat mich spontan angesprochen. Es gibt gewissermaßen eine Geschichte dazu:
Als ich jung war – ja!! – da hatte auch unsereins gelegentlich Stress mit den „Alten“ (Eltern, Lehrer, Ausbilder…). Die nervten manchmal. „Hast du endlich das und das erledigt… wenn du nicht… dann werden wir…“ Nun musste unsereiner zum Ausdruck bringen, dass einen das überhaupt nicht berührte. Dafür gab es einen absolut coolen Spruch: „Ist mir doch egal, wenn im Keller der Besen umfällt!“ Damit hatte man hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass diese Drohungen der Erwachsenen absolut belanglos waren. Aber da jeder coole Spruch sich irgendwann abnutzt, gab es nach einiger Zeit einen Nachfolger: „Ist mir doch egal, wenn in China ein Sack Reis platzt!“
Und nun kommt unser unbekannter Graffiti-Künstler daher und ruft mir zu: Mensch Koball, was du da früher gesagt – oder manchmal auch nur gedacht hast – das war ganz falsch. Es ist überhaupt nicht egal, wenn irgendwo auf der Welt irgendetwas passiert. Das hat sehr schnell Auswirkungen auf uns. Wenn in Brasilien der Regenwald gerodet wird, dann ändert sich das Klima auch bei uns. Und wenn in China der sprichwörtliche Sack mit Reis platzt – Lebensmittel durch Missernten oder Umweltzerstörung vernichtet werden, dann hat das Auswirkungen auf die Lebensmittelpreise bei uns.
Nun – die Erkenntnis, dass alles mit allem zusammenhängt, wird für Absolventen eines beruflichen Gymnasiums mit der Fachrichtung Wirtschaft vermutlich nicht ganz neu sein – gleichwohl, mich hat dieser Spruch spontan angesprochen – und besonders auch die Schlussfolgerung: Zunächst bist du ein Mensch und erst in zweiter Linie Angehöriger einer Nation. Soweit Text 1.
Text 2 gehört eindeutig zur Hochkultur: Lyrik, Hesse, Stufen (so heißt der Text). Zunächst aber einige Sätze zu Hermann Hesse. Als Dichter faszinierte Hesse ganze Generationen weltweit, die ihn oft als Lebensratgeber gelesen, ja geradezu verschlungen haben. Sein Roman „Der Steppenwolf“ galt in den 60ern als die Bibel der Hippies und ist Namenspate der gleichnamigen kanadischen Rockband (Born to be wild). 1946 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er gilt bis heute als einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren weltweit. Und Hermann Hesse hat auch viele Gedichte verfasst –„Stufen“ ist eines seiner bekanntesten.

Stufen
Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Das Leben wird hier geschildert als eine Abfolge von Stufen, jede Stufe ist zeitlich begrenzt. Die jeder Lebensstufe typische Eigenart ist zeitlich begrenzt: die kindliche Unbedarftheit, das Ungestüm der Jugend – zeitlich begrenzt, die Tatkraft der jüngeren Erwachsenen, die Abgeklärtheit der Älteren – zeitlich begrenzt.

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

Das erscheint hier aber nicht als Bedrohung, sondern eher als Reiz:

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.

Dabei erscheint dieser Dichter Hesse immer wieder erstaunlich modern. Du darfst nicht davon ausgehen, dass das, was du einmal gelernt hast, dein Leben lang Gültigkeit haben wird. Du musst immer wieder bereit sein, neu zu lernen, dich neuen Herausforderungen zu stellen, auf neue Techniken einzulassen, du musst geistig flexibel sein – das sind Anforderungen, die an euch gestellt werden. Das habt ihr so oder so ähnlich schon x-mal gehört von Eltern, Lehrern – eben gutmeinenden Erwachsenen – für die das selbstverständlich auch selbst gilt. Bei Hesse lesen wir das so:

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Der, der das geschrieben hat, ist vor über 50 Jahren gestorben, geschrieben hat er es Anfang der 40er-Jahre des letzten Jahrhunderts, das ist über 70 Jahre her. Da hat kein Mensch von lebenslangem Lernen gesprochen. Da meinten die meisten Menschen davon ausgehen zu können, nach Schule und Ausbildung seien sie mit dem Lernen durch. Früher – „zu meiner Zeit“, da sagte man zu solchen Anlässen, wie wir ihn heute begehen, zu einer Schulabschlussfeier gerne: „Nun beginnt der Ernst des Lebens.“ Als man in den Kindergarten kam, als man eingeschult wurde, als man zur weiterführenden Schule kam – immer begann der Ernst des Lebens. Freilich ist dieser Gedanke nicht gänzlich falsch – nur kommt dieses Leben, das mir da angekündigt wird, doch recht bedrohlich daher. Der Ernst des Lebens – nun ist es vorbei mit Spaß und Freude. Bei Hesse lesen wir das viel freundlicher:

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Ihr habt jetzt heiter einen Raum durchschritten – eure Schulzeit ist vorbei – erwartungsvoll begebt ihr euch auf die nächste Lebensstufe, gewissermaßen in einen neuen Raum: Ausbildung, Studium, evtl. Auslandsaufenthalte. Eure Eltern haben einen Raum durchschritten – die sagen jetzt mit einer gewissen Erleichterung: Wir haben unser Kind durch die Schule gebracht, diese Episode haben wir hinter uns (zumindest mit diesem einen Kind). Und erwartungsvoll begleiten sie euch auf eurem weiteren Weg. Auch wir Lehrer haben einen Raum durchschritten, wieder dürfen wir einen Jahrgang verabschieden und erwartungsvoll begrüßen wir in einigen Wochen neue Schülerinnen und Schüler, die wir und die uns wieder einige Zeit begleiten werden.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Genießt diesen Zauber, lasst euch durch ihn beschützen – und wenn ihr euch irgendwo zu sehr eingerichtet habt, dann genießt einen neuen Zauber eines weiteren Neuanfangs. Lebt euer Leben. Dafür wünschen wir – alle Lehrerinnen und Lehrer – euch alles Gute!

Thomas Koball hielt die Abirede 2013

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